Ein flüchtiger Kuss

Fragte man Giovanni, was beinahe zum Exitus ihrer Liebesbeziehung geführt hätte, würde er wahrscheinlich sagen: Die Gewöhnung und dass wir unsere Liebe dem Zufall überlassen haben. Oder anders ausgedrückt: das Fehlen von Ritualen und Fantasie. Nicht nur die Liebe, aber sie besonders, braucht beides.

Sie hatten sie vergessen im Getriebe des Alltags, die ganz kleinen und unscheinbaren Gesten der Zärtlichkeit mitten im Alltag: ein Küsschen am Morgen oder wenn sie aus dem Haus gingen, eine kleine, zarte Berührung ganz nebenbei, dass er ihr die Hand kurz auf den Rücken legte, wenn sie in der Küche stand, oder sie ihm über die Schultern strich, ein Gute-Nacht-Trunk oder was auch immer. Wenn er im Bett neben ihr dann vor der so schwerwiegenden Frage stand, ob er es wagen könne und wie er es anstellen solle, die Handbreit Abstand zu ihr zu überwinden, war das plötzlich eine unbezwingbare Hürde, weil die kleinen Brücken des Alltags fehlten. Es fehlte die Vertrautheit mit der ungezwungenen Nähe des anderen.

Ein flüchtiger Kuss
wohin sollte er fliehn?
Ich lasse ihn
nicht mehr
von dannen ziehn
ich nehm ihn
zu mir
und heb ihn
gut auf
es könnte
leicht sein
dass ich ihn
einmal brauch
dann hol ich ihn
aus meinem Herzen
hervor
vielleicht
sagt er mir dann
dass ich noch nicht
verlor
was ich schon
verloren geglaubt
denn der flüchtige Kuss
war
geschenkt
nicht geraubt

Giovanni Vandani, Ein flüchtiger Kuss
aus: Hast du Lust? (2021)

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